175 Jahre Struwwelpeter – Autoritär mit ‚schwarzer Pädagogik‘
von Wolfgang Bräun
Eltern der 1970er und 80er Jahren werden sich erinnern, denn der strafende, mit Schmerzen sanktioniert beschriebene Erziehungsstil galt als autoritär und wurde als ‚schwarze Pädagogik‘ verteufelt. Doch seit 175 Jahren gilt: „Der Struwwelpeter“ gehört zu den erfolgreichsten deutschen Kinderbüchern, übersetzt in zahlreiche Sprachen und viele Adaptionen gelten als „Struwwelpet(e)riaden“.
Der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, 1809 -1894, betitelte mit „Struwwelpeter“ sein Werk aus dem Jahr 1844 und machte diesen ‚Peter‘ zur Titelfigur eines gemalten Heftes mit handschriftlichen Versen.
Gedruckt wurde das Bilderbuch erstmals 1845, das jene Geschichten schildert, in denen Kinder ihr „Fehlverhalten“ mit drastischen Folgen spüren und erleiden: vom Sturz ins Wasser bis zu deren Tod.
Hoffmanns Geschichten handeln von Kindern, die nicht brav sind, nicht auf ihre Eltern hören und sie deswegen allerlei grausames Unheil erleiden müssen.
Hoffmanns einfaches, bemaltes und getextetes Schreibheft als Geschenk, wirkte im Bekanntenkreis und erregte großes Aufsehen:
„Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht … daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten.“
Freund und Verleger Zacharias Löwenthal konnte Hoffmann jedoch überreden sein „Œuvre“ zu veröffentlichen.
Und so erschienen vor 175 Jahren „Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von drei bis sechs Jahren“.
Aus Scheu vor der Öffentlichkeit gab sich Hoffmann das Pseudonym ‚Reimerich Kinderlieb‘.
Im Bilderbuch seither mit dabei der „bitterböse Friederich“, der bestraft wird, weil er Tiere quält:
„Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein.“
Für Hoffmanns Zeitgenossen eine politische Anspielung auf den preußischen König Friedrich-Wilhelm.
Als gar unbedarft galten die Eltern der jungen Pauline mit den beiden Katzen Minz und Maunz. Sie verkennen, dass Paulinchen Zündhölzer entdecken könnte. Paulinchen zündet diese, ihr Haar fängt Feuer und sie verbrennt bis auf die Schuhe. Die Katzen Minz und Maunz moralisieren:
„ …die Katzen, erheben ihre Tatzen. Sie drohen mit den Pfoten: Der Vater hat’s verboten!“
Streichhölzer erleichterten seinerzeit ganz neu das Feuermachen und wurden eben auch zur Gefahr für Kinder.
Und jene Kinder, die den Mohren verspotten, werden schwarz gefärbt im großen Tintenfass.
Dass ein „Mohr“ von drei Knaben verspottet wurde, endet damit, dass sie daraufhin vom „Nikolas“, eigentlich Nikolaus, zur Strafe in schwarze Tinte getaucht werden:
„Nun seht einmal, wie schwarz sie sind, viel schwärzer als das Mohrenkind.“
Die literarische Wissenschaft sah und sieht in Nikolas’ Bild mit Bart einen Affront gegen den Zaren Nikolaus I. und die wohl von ihm verordnete geschwärzte Zensur in importierten Büchern.
Pech hat der „fliegenden Robert“, weil er bei Sturm trotz Verbot das Haus verlässt und samt Regenschirm vom Wind auf Nimmerwiedersehen fortgetragen wird.
Und weil Konrad heimlich am Daumen nuckelt, schnippt ihm der Schneider die Daumen ab. Einzig der Hase scheint schlau, der den Jäger mit dessen eigener Flinte aufs Korn nimmt.
Erinnert sei auch an den Zappel-Philipp, den Suppen-Kaspar oder den Hanns-Guck-in-die-Luft, die bis heute in der Umgangssprache auftauchen.
In „Revision“ geriet Hoffmanns Werk mit Publikationen zu dessen 200. Geburtstag, als man den historischen Kontext Hoffmanns als zeitbezogen und warnend-pädagogisch hervorhob.
Historisch war es einige Zeit vor der Weihnacht 1844, als der Arzt Heinrich Hoffmann nach einem Bilderbuch als Geschenk für seinen damals dreijährigen Sohn Carl suchte, er aber nicht fündig wurde, was ihm für ein Kind dieses Alters passend erschien. Dazu schrieb Hoffmann 1871 in „Die Gartenlaube“:
„In der Vorweihnachtszeit 1844, mein ältester Sohn war drei Jahre alt, wollte ich ihm zum Fest ein Bilderbuch kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und damit endeten, das es hieß: ‚Das brave Kind muss wahrhaft sein‘ oder: ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘“
Als posthum 1926 Hofmanns Erinnerungen veröffentlicht wurden, las man von ihm:
„Ja, ich kann mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich; ich habe gehört, dass man ihnen in Nord- und Südamerika, ja am Kap der guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist.“
Hoffmanns Ur-Protagonist selbst erlebte jedoch die kürzeste Geschichte.
Sein Peter mag weder Schere noch Kamm an sich heranlassen
„An den Händen beiden ließ er sich nicht schneiden seine Nägel fast ein Jahr. Kämmen ließ er nicht sein Haar. Pfui! ruft da ein jeder: Garst’ger Struwwelpeter“.
Für Hoffmann war seine Titelfigur auch die eines „ungeleckten Bären“.
Wohl als Vorlage des langhaarigen Peter diente eine französische Karikatur von 1842 und aus 1793 ein englischer Kupferstich des „Woolly-Headed-Boy“: ein Knabe aus Knaresborough mit un-kämmbaren Haaren.
Seine Toleranz gegenüber Juden lasse sich erkennen, als Hoffmann in der Neuausgabe 1859 die Arabesken in dieser Geschichte durch Davidsterne, ersetzte.
Das wohl pointierteste Kapitel des Struwwelpeters ist der Suppenkaspar. Nur wenige Verse schildern einen Jungen, der sich weigert, seine Suppe zu essen und deshalb innerhalb weniger Tage verhungert.
Mit dem Suppenkaspar stellte Hoffmann das Erziehungsproblem im Bürgerhaus auf eine wahrlich unterhaltsame literarische Ebene.
Auch damit verband Hoffmann geschickt zwei aktuelle Themen des frühen 19. Jahrhunderts.
Da ist zum einen die bürgerliche Erziehung, die erstmals von der breiten Bevölkerung wahrgenommen wird, denn Erziehung von Kind und Jugend geschah bis dato nur nach den Prinzipien adeliger Schichten, deren Abkömmlinge meist durch Hauslehrer belehrt wurden, während beim Bürgertum zur Biedermeier-Zeit die „Berufs-Erziehung“ durch den Lehrherren erfolgte.
Pointiert hat Hoffmann als Verhalten auch die Anorexia nervosa aufgegriffen: trotz besserer landwirtschaftlicher Versorgung im 19. Jahrhunderts wurde Essen verweigert. Absurd in Zeiten von Hunger und Not, die immer wiederkehrten.
Folglich eine reale psychische Verirrung, weshalb wohl der Suppenkaspar als erster ‚Anorektiker‘ beschrieben wurde und man dies auch als Erziehungsproblem diskutierte.
So wird angenommen, dass Hoffmann als leitender Arzt einer Frankfurter Anstalt für Psychiatrie eben deswegen auch jugendliche Patienten hatte. War doch 1834 der Tod eines neunjährigen Jungen, populär geworden, dessen Grabstein mit Suppenkaspar bezeichnet gewesen sein soll, wie es auch im lokalen Kirchenbuch stand: „Verweigerte Nahrungsaufnahme“.
Hoffmanns zeichnerisches Talent ist bis heute auch deutlich beim Zappelphilipp, der am Tisch nicht still sitzen kann, mit dem Stuhl schaukelt und schließlich rücklings samt Tischdecke und Speisen zu Boden fällt; „Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“.
Dazu blieb auch eine kurze Seereise Hoffmanns von Amsterdam nach Hamburg 1836 erinnerungsstark, als bei kräftigem Seegang ein ansonsten seefester Geselle vom Stuhl fiel und Tischtuch samt Geschirr und Mahlzeit zu Boden riss.
Und schließlich ist da noch der Hanns Guck-in-die-Luft, dessen Gedanken stets abschweifen, bis er ins Wasser fällt – eine frühe Hyperaktivität samt gestörter Aufmerksamkeit.
Das Ur-Manuskript der „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ liegt übrigens im Germanischen Nationalmuseum und die deutschen Ausgaben des Struwwelpeter-Buches von der 1. Ausgabe 1845 bis heute hält die Uni-Bibliothek Frankfurt.
Längst wird Hoffmans Buch jedoch Einschüchterung attestiert samt der zweifelhaften Moral:
„Wer nicht hören will, muss fühlen!“
Schwarze Pädagogik oder doch nur schwarzer Humor als Satire, weil in der pädagogischen Übertreibung die Anschauung liegt?
Bis heute sind vom Struwwelpeter mehr als 540 Auflagen erschienen, er wurde verfilmt – Der Struwwelpeter, BRD 1955 – und in sehr viele Sprachen übersetzt und auch in Blindenschrift gesetzt.
Und wie heißt es in der Regel auf der Rückseite jedes Buches:
„Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind“.
Na, dann! Frohe Weihnachten!
Weitere Infos
Struwwelpeter Museum Hinter dem Lämmchen 2-4 60311 Frankfurt am Main
Tel.: (069) 747969 Fax: (069) 9494767-499
Fotos/Repros: Struwwelpeter-Museum und Schwaiger und Steinlein Verlag Köln; Discounter-Ausgabe
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